Am Vorabend der Fachhochschulgründung

Ein neues Zeitalter beginnt

Als Josef Gefahrt 1965 neuer Direktor der Staatsbauschule wurde, hatte er ein Ziel, nämlich für die Umwandlung in eine Fachhochschule zu sorgen: „Somit war die Rosenheimer Schulpolitik seit 1965 notwendigerweise auf die Schaffung der Voraussetzungen für die Umwandlung zur eigenständigen Fachhochschule Rosenheim ausgelegt“, resümierte er in der Festschrift zum 50-jährigen Hochschuljubiläum. Internationales Renommee der „Holzklezen“ und ein schlagkräftiges Marketing zum 40-jährigen Jubiläum kamen der Hochschule zugute. Zudem hatte das „Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus“ 1965 das Raumprogramm für das neue Studiengebäude in der Marienberger Straße genehmigt, das bereits für 900 Studierende ausgelegt war. Ein wichtiges Signal für Rosenheim war damit gegeben – eine Zusage für die Fachhochschule nicht.

Die Diskussion um die Gründung der Fachhochschule Rosenheim spiegelte die bildungspolitische Debatte in Westdeutschland wider. Anfang der sechziger Jahre geriet das Bildungssystem der Bundesrepublik in die Kritik. Lehrpläne und Dozenten-Ausbildung entsprachen nicht mehr den gestiegenen Anforderungen von Wirtschaft und Industrie. Zugleich stiegen bis 1970 die Studentenzahlen an deutschen Hochschulen um vierzig Prozent an. Universitäten konnten den Ansturm nicht bewältigen.

Das Hochschulrahmengesetz ebnet den Weg

1969 wurde das Hochschulrahmengesetz verabschiedet, das die Rahmenkompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern festlegte. Bereits ein Jahr zuvor hatten sich die Ministerpräsidenten der elf Bundesländer auf die flächendeckende Einführung von anwendungsorientierten Fachhochschulen geeinigt. In Bayern trat das Fachhochschulgesetz 1970 nach langem Kampf und Auseinandersetzungen in Kraft. Welche Einrichtungen überführt werden sollen, war zunächst umstritten. 

Industrie und Ingenieurverbände wie der „Verein Deutscher Ingenieure“, der „Verband der Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnik“, der „Zentralverband der Ingenieurvereine“ sowie die „Deutsche Kommission für Ingenieurausbildung“ entwickelten bereits in den sechziger Jahre Kriterien für Wirtschafts- und Ingenieurschulen. Diese reichten von der Einführung einer zwölfjährigen Schulausbildung als Eingangsvoraussetzung, einer mindestens vierjährigen Ingenieursausbildung bis hin zu der Forderung, die Fachhochschulen müssten den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten. Letztendlich kämpften die Verbände damit für eine strukturelle Gleichstellung der praxisorientierten Ingenieursausbildung mit den (Technischen) Universitäten und ein Ende der Diskriminierung. Schließlich beruhte das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre maßgeblich auf der Leistung von Technikern und Ingenieuren.

Zudem bangten Verbände und Industrie um die internationale Anerkennung des deutschen Ingenieurtitels. Hierfür verlangte die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) ebenfalls ein mindestens vierjähriges Studium sowie vertiefte Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften, wie sie in zwölf Jahren an höheren Schulen vermittelt werden. Für eine Weile sah es so aus, als wolle die „EWG“ Ingenieurschulen wie berufsbildende Schulen behandeln. Da die bayerischen Hochschulen die Kriterien der „EWG“ erfüllten, können Rosenheimer Studierende den Ingenieur-Titel führen. Bei der Umwandlung von Ingenieurschulen in Fachhochschulen ließ sich das Bayerische Kultusministerium lange bitten. Zahlreiche Eingaben und Gutachten und Studentenproteste waren notwendig, um die ablehnende Haltung zu überwinden.

Nicht alle sind vom Aufbruch begeistert

Bei seinen intensiven Bemühungen, die Staatsbauschule in eine Fachhochschule umzuwandeln, wusste Direktor Gefahrt den Industriebeirat sowie Verbände und Wirtschaft hinter sich. Innerhalb von nur fünf Jahren gelang es in einem Kraftakt, alle Voraussetzungen für die Anhebung zur Fachhochschule zu erfüllen. Diese waren bei Amtsantritt 1965 nicht gegeben: In Rosenheim fokussierte die Ausbildung auf den Werkstoff Holz, andere Fachrichtungen – wie sie für Ingenieurschulen üblich sind – fehlten ebenso wie geeignete Studiengebäude, Versuchsanlagen und Labore. Mit 211 Ingenieurstudenten und 19 Dozenten „erfüllt die Ingenieurschule Rosenheim diesen Status in keiner Weise“, stellte Gefahrt schonungslos fest. Gegenwind schlug dem Direktor in der eigenen Hochschule entgegen: Vor allem ältere Dozenten, aber auch Vertreter der Holzindustrie und Holzwirtschaft standen der Umstrukturierung kritisch gegenüber. Sie fürchteten eine unnötige Akademisierung. Einige sprachen von einem „Stilbruch“ mit dem alten Holztechnikum.

Da eine zweite Fachrichtung dringend benötigt wurde, schlug Gefahrt angesichts der hohen Zuwachsraten in der Kunststoffverarbeitung dem Industriebeirat die Einrichtung des Faches „Kunststofftechnik“ vor. Spitzenverbände und die kunststofferzeugende wie -verarbeitende Industrie sahen in dem neuen Studiengang großes Potenzial. Bereits 1967 war die Genehmigung des Bayerischen Kultusministeriums erreicht. Die Ausbildung fand zunächst im Rahmen der „Holztechnik“ als Schwerpunktstudium statt. 60 Studierende schreiben sich 1969 für die später eigene Fachrichtung „Kunststofftechnik“ ein. Für die notwendigen Praktika wird eine Halle mit Übungs- und Versuchsanlagen gebaut. 1972 verlassen die ersten Ingenieure für „Kunststofftechnik“ die neue Fachhochschule. Um das Lehrangebot zu erweitern, wurde die viersemestrige Holzwirtschaftsschule 1970 in eine sechssemestrige „Höhere Wirtschaftsfachschule“ umgewandelt und an die Ingenieurschule angedockt. Hieraus entsteht der spätere Fachbereich Betriebswirtschaft.

Außerdem verstärkte das Direktorium das allgemeine Lehrangebot. Künftige Ingenieure sollen mit einer besseren Allgemeinbildung auf ihre Führungsaufgaben und die gestiegenen technischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen vorbereitet werden. Ab 1965 können Rosenheimer Studierende Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch als Wahlfächer belegen und sich in dem fünf Jahre später eingerichteten Sprachlabor in den Fremdsprachen perfektionieren. 1969/70 wird EDV als Pflichtfach etabliert, stand doch seit 1966 die digitale Rechenanlage „Zuse 23“ zur Verfügung. Die Hochschule schloss zudem einen Vertrag mit der „Rosenheimer Arbeitsgemeinschaft für Datenverarbeitung“ und profitierte von der Nutzung einer IBM-Maschine 360/20. 

Im Rahmen der angestrebten Akademisierung der Ingenieurschule fand ferner eine stärkere Separierung der Ingenieur- von der Technikerausbildung statt. Aus dem alten Holztechnikum gehen drei Einrichtungen hervor, die sich alle auf unterschiedlichen Bildungsniveaus dem Werkstoff Holz widmen: Bereits 1967 gründete sich das „Lehrinstitut der Holzwirtschaft in Rosenheim e.V.“; mit der Einrichtung der Fachhochschule ging die Verselbstständigung der „Technikerschule Rosenheim“ einher.

Umwandlung steht auf der Kippe

Doch 1968 drohte die Umwandlung von Ingenieurschulen in Fachhochschulen in letzter Minute zu scheitern. So beschloss die 123. Kultusministerkonferenz in Hannover, die Ingenieurschulen in das berufsbildende Schulwesen statt in den tertiären Sektor mit den Universitäten zu integrieren. Jetzt kam es bundesweit zu Studentenprotesten. Auch die Rosenheimer Ingenieurstudierenden beteiligten sich. Im Juni rief die Studentenschaft zu unbefristeten Vorlesungs- und Prüfungsboykotten auf. Mit drei Autos versperrten Studierende in der Nacht zum 11. Juni den Haupteingang, den Protesttransparente schmückten. Der Hörsaal wird das Hauptquartier der Streikenden, die Plakate malten, Flugblätter entwickelten und Streikposten bildeten. Einen Tag später zogen die Ingenieurstudierenden in einem Demonstrationszug durch Rosenheim und beteiligten sich knapp eine Woche später an den Protestaktionen bayerischer Ingenieurstudierenden in München. Direktor Gefahrt unterstützte die Forderungen der Studierenden, kritisierte aber die Form des Protests als „brisante Waffen“.

Auch in Rosenheim kam es zu politisch motivierten Demonstrationen, die von dem damaligen AStA-Vorsitzenden Peter Horváth-Mohácsi mitinitiiert wurden, der später in München als Wirtschaftsberater arbeitet. So zeigen Protokolle aus Arbeitssitzungen eine leidenschaftlich geführte Diskussion über die Anerkennung der Oder-Neiße Linie oder die Durchführung einer ‚Vietnam-Veranstaltung´ mit Vertretern des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) an der Ingenieurschule Rosenheim“. Am 14. Mai 1968 demonstrierten beispielsweise Studierende am Max-Josefs-Platz unter dem Titel „Ermächtigung 1968?“. Außerdem organisierte der AStA eine Trauerfeier mit anschließender „Niederlegung der Vorlesung“ als Reaktion auf den Tod des BWL-Studenten Rüdiger Schreck, der bei der Osterdemonstration in München 1968 zu Tode gekommen war. Wie in anderen Städten gingen auch in München Studierende auf die Straße, um gegen den Axel-Springer-Verlag zu protestieren, den sie für den Anschlag auf den Berliner Studentenführer Rudi Dutschke verantwortlich machten.

Der Mehrheit der Rosenheimer Ingenieurstudierenden kämpfte für die Einführung einer Präsidialverfassung und darum, dass auch qualifizierte Dozenten aus der Industrie unterrichten dürfen. Als die Ministerpräsidenten 1969 beschließen, die Ingenieurschulen doch in Fachhochschulen zu überführen, beendeten die Rosenheimer Studierenden am 6. Mai ihren Streik. Mit den bundesweiten Demonstrationen ist der Weg zum neuen Hochschultyp geebnet, der Fachhochschule.

Aufbruch in eine neue Zeit

Der Umzug in das neue Hörsaalgebäude mit einer Hauptnutzungsfläche von 5.729 Quadratmetern an der Marienberger Straße wirkte 1969/70 symbolisch wie der Aufbruch in eine neue Zeit. Die Hochschule verfügte endlich über ausreichend Platz für Hörsäle, eine Reihe von Laboratorien wie für Chemie, Physik, Holzschutz oder Elektrotechnik sowie Übungsräume. Insgesamt hatte die Rosenheimer Hochschule nun Platz für rund 900 Studierende. Mit dem Bauteil C kamen ein Verwaltungsgebäude mit Mensa für 120 Studierende und eine Bibliothek hinzu. Wie damals üblich wurde das sechsgeschossige Hörsaalgebäude in Sichtbeton gebaut. Funktionalität, nicht Campusleben ist die Devise. Inzwischen waren die Studierendenzahlen in Rosenheim explodiert: Im Sommersemester 1971 sind bereits 770 Ingenieur- und Wirtschaftsstudierende immatrikuliert. 

Bei der feierlichen Einweihung des neuen Gebäudes 1970 versprach der Bayerische Kultusminister in seiner Festansprache, aus der Rosenheimer Hochschule eine eigenständige Fachhochschule zu machen. Doch dann hält sich das Kultusministerium nicht an sein Versprechen. Für kurze Zeit sieht es so aus, als ob die Rosenheimer Einrichtungen an die Fachhochschule München eingegliedert würde.  „Mit Einspruch vom 29. April 1970 konnte dies verhindert und die Errichtung der Fachhochschule Rosenheim zum 1. August 1971 sichergestellt werden“, erinnerte sich Gefahrt, der die Geschäfte des Gründungspräsidenten bis 1972 wahrnahm. Mit vier Fachbereichen für „Allgemeinwissenschaften“, „Holztechnik“, „Betriebswirtschaft“ und „Kunststofftechnik“ zählte Rosenheim 1971 unter den bayerischen Fachhochschulen zu den Exoten, deren Existenz zunächst nicht gesichert war. „Mit dem Inkrafttreten des Bayerischen Fachhochschulgesetzes am 1. August 1971 wurde der Wunsch weiter Kreise aus Wirtschaft und Politik umgesetzt", so Josef Gefahrt. Es ist der Beginn einer beispielslosen Erfolgsgeschichte.